Cover
Titel
Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram


Autor(en)
Burkhardt, Hannes
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (23)
Erschienen
Göttingen 2021: V&R unipress
Anzahl Seiten
664 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Göllnitz, Institut für Hessische Landesgeschichte, Philipps-Universität Marburg

Anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren erinnerten im Jahr 2020 zahlreiche Gedenkstätten an die Opfer des Holocaust, wobei insbesondere die sozialen Netzwerke für die globale Gedenk- und Erinnerungskultur aufgrund der COVID-19-Pandemie eine wichtige Rolle spielten. Die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau war die erste Institution dieser Art, die die Reichweite der sozialen Medien erkannte und die seit 2009 auf Facebook ihre Follower/innen über historische Ereignisse im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus informiert, die Geschichte des Lagers sachkundig erläutert und über bewegende Schicksale von Holocaustopfern mithilfe von Fotografien berichtet. Mehrmals pro Woche werden auf dem Facebook-Profil Veranstaltungshinweise sowie die Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz, zumeist an einzelne Opfer- und Täterbiographien rückgebunden und auf diese Weise stark personalisiert, geteilt. Die Beiträge sind zumeist in sehr wenigen, kurzen Sätzen formuliert und beziehen sich auf ein konkretes Ereignis der Lagergeschichte, das sich an dem Tag jährt, an dem ein entsprechender Post veröffentlicht wird – historische Kontexte oder Bedeutungszusammenhänge werden jedoch nicht vertiefend erklärt, da intratextuell das Prinzip der Kürze, nicht jenes der didaktischen Vermittlung dominiert. Mithilfe dieser Vermittlungsform wird eine größtmögliche Gruppe von Nutzer/innen erreicht, die in ihren Kommentaren – der kommunikativen Spezifik des Trägermediums entsprechend – vorwiegend Trauer, Entsetzen oder Bewunderung ausdrücken und zum Erinnern bzw. Mahnen aufrufen. Auf dem Mikrobloggingdienst Twitter folgen der Gedenkstätte mittlerweile mehr als 1,1 Millionen Menschen, darunter auch zahlreiche prominente Hollywood-Ikonen wie der als Luke Skywalker bekannt gewordene Mark Hamill. Mit ihren Posts trägt die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau wirkmächtig zur Etablierung von spezifischen Narrativen der transnationalen Erinnerungskultur bei, die sich in medienspezifisch-transformierter Form in konkreten Narrationen im Social Web manifestieren.

Wie sensibel das Thema Nationalsozialismus und Holocaust in den sozialen Medien ist, lässt sich regelmäßig beobachten: 2014 sorgte die junge US-Amerikanerin Breanna für Schlagzeilen, als sie ein Selfie inmitten der Häftlingsbaracken von Auschwitz postete – unbedacht lächelte sie auf dem Foto in die Kamera. Morddrohungen und ein virtueller "Shitstorm" waren die Folge. Diese Selfie-Mentalität vieler Besucher/innen kritisierte dann im Jahr 2017 der deutsch-israelische Comedian Shahak Shapira mit seinem Online-Projekt "Yolocaust" am Beispiel des Holocaust-Mahnmals in Berlin.1 Im Jahr 2019 sah sich auch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zu einem Statement auf Twitter veranlasst, nachdem sich Besucher/innen wiederholt beim Balancieren auf den Gleisen des ehemaligen Todeslagers fotografieren ließen.

Aufgrund der hohen Reichweite der sozialen Medien, in denen Narrationen über den Nationalsozialismus und den Holocaust nicht nur als diskursive Formationen sowohl von professionellen Geschichtsinstitutionen als auch von Privatpersonen konstituiert werden, sondern auch als kommunikative Erinnerungsprozesse – freilich in den spezifischen Materialitäten der virtuellen Erinnerungsräume –, muss es erstaunen, dass Geschichts- und Erinnerungskulturen im Internet bislang kaum wissenschaftlich analysiert worden sind. Als Ort der Auseinandersetzung mit Geschichte besitzt das Internet heute eine immense Relevanz für die Vergegenwärtigung von Vergangenheit. In Form der Multimedia-Instagram-Projekte @eva.stories und @ichbinsophiescholl oder des YouTube-Video-Tagebuchs "annefrank" können mittlerweile Millionen Nutzer/innen quasi an jedem Ort, zu jeder Zeit und barrierefrei die Lebensgeschichten von drei historischen Personen, die den Verbrechen des NS-Regimes zum Opfer gefallen sind, digital nachvollziehen. Fast zwangsläufig muss der Rezensent dabei an die Zeile eines alten Rainald-Grebe-Songs mit dem Titel "Guido Knopp" denken: "Die Geschichte hab‘ ich griffbereit / Wie eine Tafel Schokolade / Ich zieh‘ sie aus der Tasche / Wenn ich Hunger auf sie habe".

Obgleich Hannes Burkhardt in seiner für den Druck leicht überarbeiteten Dissertation, die er bereits im Mai 2018 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eingereicht hatte, die gerade erwähnten Videoblogs nicht in seine Analyse einbezieht und auch die jüngeren Schlagzeilen um Holocaust-Selfies weitgehend außen vor lässt, so nimmt sich die nun vorliegende Studie doch einem wichtigen Forschungsdesiderat an. Indem er mithilfe eines rein empirisch-deskriptiven Ansatzes spezifische Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram in den Blick nimmt, d.h. ausgewählte Online-Angebote mit Bezug zu historischen Kontexten in Hinblick auf die präsentierten Geschichtsnarrationen sowie die medialen Produktionsumstände untersucht, will Burkhardt erstmals konkrete digitale Erinnerungskulturen zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocausts in den genannten sozialen Medien analytisch fassen und beschreiben. Sein Erkenntnisinteresse liegt dabei auf zwei zentralen, miteinander eng zusammenhängenden Ebenen: Erstens wird nach Erinnerungsdiskursen gefragt, die bestimmte Narrative ausgebildet haben und die sich in konkreten Narrationen im Social Web manifestieren. Zweitens soll aufgezeigt werden, dass die Kontextualisierung von Nationalsozialismus und Holocaust in den sozialen Medien ein dynamischer kommunikativer Erinnerungsprozess ist.

Im Fokus der Untersuchung stehen die vier Social-Media-Plattformen Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram, wobei die Dimensionierung der historischen Kontexte noch einmal anhand dreier Kategorien ("historische Orte", "Personen" und "Ereignisse") ausdifferenziert wird. Bei ersteren handelt es sich um Orte der Erinnerung an die Geschichte des Holocaust, an denen Institutionen des kollektiven Gedächtnisses angesiedelt sind und die gleichzeitig professionelle, etablierte Gedenkstätten darstellen: das Auschwitz Memorial and Museum in Oświęcim (Polen) und das Anne-Frank-Haus in Amsterdam (Niederlande). Mit den historischen Personen Claus Philipp Maria Schenk Graf von Stauffenberg sowie Irma Grese wurden dagegen zwei Beispiele ausgewählt, die sich in den sozialen Medien vor allem durch Privatpersonen in konkreten Narrationen und populären Erinnerungskulturen manifestieren. Die Analyse der historischen Ereignisse, ausgewählt wurden die Novemberpogrome sowie die Bombardierung Londons von September 1940 bis Mai 1941 (die im engeren Sinne als "The Blitz" bezeichnet wird), besitzt tendenziell eher einen Exkurscharakter, da sich die Untersuchung ausschließlich auf Twitter begrenzt. Das Grundgerüst der Studie ist dabei weitgehend linear aufgebaut: Zunächst wird auf ein bis zwei Seiten das Forschungsobjekt vorgestellt, um darauf aufbauend die transnationale Erinnerung (Auschwitz), konkrete Erinnerungsdiskurse (Anne Frank, Claus Stauffenberg, Irma Grese) oder nationale Erinnerungskulturen (Novemberpogrome, "The Blitz") von 1945 bis heute zu diskutieren. Anschließend folgt jeweils eine empirisch-deskriptive Analyse getrennt nach den vier Social-Media-Plattformen, deren Ergebnisse dann in Unterkapiteln zusammengefasst werden.

Dieser klare, allerdings wenig dynamische Ablauf der Studie ist zugleich eine der größten Schwächen der Arbeit: Denn die Lektüre des umfangreichen Werks mit seinem stark formalisierten Zugang stellt eine erhebliche Herausforderung an die Kondition der Lesenden dar. Die Vielzahl an didaktischen, digitalen und historischen Begriffen, die zwar in extenso im Kapitel "Zugänge und Grundlagen" erläutert werden, sich ohne ein Sachregister aber nur schwer nachträglich erschließen lassen, verstärkt diesen Eindruck zusätzlich. So werden beispielsweise die Termini "Social Media", "Social Web" und "soziale Medien" auf sieben Seiten eingehend diskutiert, im weiteren Verlauf aber synonym verwendet. Insgesamt erscheint insbesondere das Methoden- und Theoriekapitel mit 71 Seiten stark überfrachtet, zumal kleinste Begrifflichkeiten, die im weiteren Verlauf der Studie keine größere Rolle mehr spielen, definiert werden und auch die methodischen wie theoretischen Zugänge allzu ausführlich in ihrer Entstehungsgeschichte präsentiert werden. Überdies hätte sich der Rezensent an der einen oder anderen Stelle ein Korrektorat gewünscht, da vor allem die zahlreichen Regieanweisungen des Autors sowie auffällige Redundanzen den Lesefluss erheblich stören. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Auf Seite 84 zitiert der Autor eine Passage aus einer im Jahr 2016 von Anja Ebersbach, Markus Glaser und Richard Heigl publizierten Studie, die auf der folgenden Seite noch einmal im fast identischen Wortlaut ohne Fußnote wiedergegeben wird.2 Und auf den Seiten 216 und 217 ist ein zwölf Zeilen langer Absatz inklusive Fußnoten gleich doppelt abgedruckt worden. An anderen Stellen werden bestimmte Satzstrukturen mehrfach verwendet, was in erster Linie durch den Aufbau der Arbeit auffällt. So lassen sich bestimmte, prägnante Formulierungen etwa zu Claus Stauffenberg oder Irma Grese sowohl in den Analyse- und Ergebniskapiteln als auch in der Kapitelzusammenfassung finden.

Problematisch ist ferner der breite Ansatz der Studie. Zwar gelingt es Burkardt in weiten Teilen seiner Arbeit, die grundsätzlichen Funktionsweisen von Erinnerungskulturen, die Transformationsprozesse von Erinnerungsdiskursen sowie die Vermittlungsstrategien von Geschichtsnarrationen in den sozialen Medien sichtbar zu machen und analytisch zu beschreiben. Der Komplexität des Materials wird der gewählte Zugang jedoch nur bedingt gerecht. Hier wäre der Fokus auf zwei zentrale Social-Media-Plattformen (etwa ein Vergleich zwischen dem textlastigen Twitter und dem bildfokussierten Instagram) oder bestimmte Vlog-Formate (wie @eva.stories) zielführender gewesen.

Nichtsdestotrotz leistet Burkhardt mit seiner Arbeit einen zentralen und wichtigen Beitrag zu einer Geschichte der Erinnerungskulturen in den sozialen Medien. Seine Arbeit belegt an den von ihm ausgewählten Fallbeispielen, dass populäre transnationale Erinnerungsdiskurse auf den Social-Media-Plattformen – deren kommunikativen Eigenheiten freilich entsprechend – reproduziert werden, dass auf diskursiver Ebene den involvierten Akteur/innen eine entscheidende Rolle zukommt, dass die medialen Materialitäten und die kommunikativen Praktiken des digitalen Mediums die Narrationen und spezifischen Erinnerungskulturen in hohem Maße prägen und dass sich letztlich in den sozialen Medien auch neue Formate von Erinnerung etablieren. Dies wird besonders an den diskursiven Erinnerungsmustern zu Irma Grese fassbar, die je nach Plattform medienspezifisch verschieden ausgestaltet werden: mal als "Beautiful Beast“, deren gewalttätiger Sadismus einen sexuellen Motivationsfaktor innehat und auf einem Facebook-Profilbild in Form eines Sukkubus ikonisiert wird, mal in der Narration der "unschuldigen Schönen", in der Grese auf Instagram als eine zu Unrecht beschuldigte junge Frau zur Märtyrerin einer "Holocaustlüge" stilisiert wird.

Mit seiner Studie erweitert Burkhardt die bisherige Forschung zu den Erinnerungsdiskursen im digitalen Raum und kann aufzeigen, wie sich mithilfe sozialer Medien neue kollektive und individuelle Erinnerungspraktiken etablieren lassen. Er belegt somit anschaulich, dass ohne professionelle, geschichtswissenschaftliche Instanzen die in digitalen Räumen vermittelten Geschichtserzählungen tendenziell beliebig, stark verzerrt oder ideologisch aufgeladen sind.

Anmerkungen:
1https://yolocaust.de (25.10.2021).
2 Anja Ebersbach / Markus Glaser / Richard Heigl, Social Web, Konstanz 2016, S. 32.